KLICK : Datum 07.07.2011
http://www.rbb-online.de/nachrichten/politik/2011_07/schwedt_bedauert_weggang.html
Derzeitig leben rund 200.000 Personen geduldet und ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland.
140.000 Geduldete halten sich mehr als fünf Jahre hier auf,
50.000 von ihnen sogar schon mehr als zehn Jahre.
Die meisten von ihnen stammen aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten,
viele kommen aus der Türkei, Afghanistan, Irak, Vietnam, Syrien, Libanon, China,
diversen Staaten der ehemaligen Sowjetunion und aus afrikanischen Ländern.
Viele von ihnen sind vor massiver Unterdrückung, Krieg und Bürgerkrieg in ihren
Heimatländern geflohen.
Hierunter eine große Anzahl Jugendlicher und Kinder, die zusammen mit ihren Eltern
nach Deutschland kamen.
Nach der Flucht der Eltern sind viele Kinder geboren, die zwischenzeitlich
Kindergarten und Schule besuchen.
Die Gründe für die fortwährende Verlängerung der Kettenduldungen sind vielfältig.
Werden Asylanträge wegen fehlender individueller politischer oder
geschlechtsspezifischer Verfolgung abgewiesen, sind die betreffenden Personen
ausreisepflichtig und können abgeschoben werden,
soweit keine Abschiebehindernisse bestehen.
Das gilt gleichermaßen für Personen, die lediglich subsidiären Schutz
vor Bedrohungen außerhalb des Asylverfahren suchen.
Sowohl nach dem früheren Ausländerrecht als auch nach dem jetzt
geltenden Aufenthaltsgesetz ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen,
solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen
unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (§ 60 a Abs. 2 AufenthG).
Tatsächliche Abschiebehindernisse können die Weigerung des Heimatstaates sein,
ihre Staatsangehörigen wieder aufzunehmen oder ihnen Pässe auszustellen.
Ebenso ist das Fehlen von Personaldokumenten, insbesondere von Pässen
oder anderen Identitätspapieren und fehlende Verkehrsverbindungen
mit dem Herkunftsland ein Abschiebehindernis.
Auch unzutreffende eigene Angaben der AusländerInnen zu ihrer Identität
und Staatsangehörigkeit sowie die Weigerung an der Ausstellung von Pässen
mitzuwirken und mit den Heimatbehörden zu kooperieren,
stellen tatsächliche Abschiebehindernisse dar.
Rechtlich unmöglich ist hingegen eine Abschiebung bei schwerer Krankheit,
ernsthafter Suizidgefahr und schwerer psychischer Erkrankung
während krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit im Sinne von
Transportunfähigkeit die Abschiebung tatsächlich unmöglich macht.
Bestehen Abschiebehindernisse, ist die Abschiebung vorübergehend auszusetzen.
Regelmäßig werden Duldungen auf einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten
befristet und fortlaufend dann in gleicher Weise verlängert. Jahr für Jahr.
Soziale und wirtschaftliche Integration ist so nahezu unmöglich,
ganz davon abgesehen, dass ein Großteil der Geduldeten
keine Arbeitsgenehmigung oder lediglich eine eingeschränkte Arbeitsgenehmigung
besitzt und häufig in saisonaler oder anderer prekärer Erwerbstätigkeit beschäftigt ist.
Daneben ist dieser Personenkreis auch in seiner Freizügigkeit beschränkt.
Neben Wohnortauflagen unterliegen sie einer auf ein bestimmtes Bundesland
bezogenen räumlichen Beschränkung und dürfen diesen Bereich nicht
ohne ausdrückliche Erlaubnis verlassen (§ 61 AufenthG).
Das erschwert immens die Arbeitsaufnahme.
Mit dem seit Januar 2005 geltende Zuwanderungsgesetz sollte die Praxis
der Kettenduldungen beseitigt werden.
Aber auch nach der neuen Rechtslage ist die Duldung weiterhin
als Instrument der „Feinsteuerung" vorgesehen (§ 60 a AufenthG).
Dieser gesetzliche Vorbehalt unterstreicht nachdrücklich die Grundkonzeption
des „Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und
zur Regelung des Aufenthaltes und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)".
Dieser Name ist Programm.
Im Nachfolgenden soll sich nunmehr auf bestimmte Aspekte in der
Anwendungspraxis des § 25 Abs. 5 AufenthG konzentriert werden,
die im Zusammenhang des Aufenthaltes aus humanitären Gründen
aktuell breit öffentlich diskutiert werden, insbesondere, ob und in welcher
Weise sich Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention -
d.h. das Recht auf Achtung des Privatlebens - auf die Anwendung
der deutschen Regelungen auswirkt.
Nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist,
eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen
und tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der
Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.
Hiervon ausgeschlossen sind AusländerInnen die das Ausreisehindernis
selbst verschuldet haben (beispielsweise durch falsche Angaben zu
ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit).
Die Ausreise ist nicht nur unmöglich, solange die Abschiebung
unmöglich ist, sondern auch die freiwillige Ausreise.
Freiwillig auszureisen, ist nahezu immer möglich.
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Ausreise aus
rechtlichen Gründen unmöglich ist, ist höchst umstritten, insbesondere,
wann ist eine Ausreise gerechtfertigt und zumutbar und nicht nur möglich ?
Die Auslegung des Bundesinnenministeriums und der Mehrheit der
Bundesländer ist hierzu absolut restriktiv. Subjektive Hindernisse
oder besondere gefahrenerhöhende Umstände in den Herkunftsländern sind ohne Belang.
Weder ein allgemeiner Abschiebestop wegen der prekären Sicherheitslage
in bestimmten Ländern noch ein langjähriger Aufenthalt oder Integration
sind für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausreichend.
Ausschließlich innerstaatliche Abschiebehindernisse in Deutschland -
beispielsweise eine schwere Krankheit - sind maßgeblich.
Aufschlussreich in der öffentlichen Debatte ist derzeitig,
ob sich aus Art. 8 EMRK Kriterien für die Unzumutbarkeit der
Ausreise herleiten lassen.
Neben dem Recht auf Achtung des Familienlebens,
das auch in Art. 6 GG geschützt ist, ist darüber hinaus die Achtung
des Privatlebens in Art. 8 EMRK garantiert.
Nach der sehr kasuistischen Rechtsprechung des
Europäischen Menschengerichtshofs schützt das Recht auf Achtung
des Privatlebens nicht nur die volle Entfaltung der persönlichen
Entwicklung der Person, sondern darüber hinaus auch deren Beziehungen
zu anderen Personen und starke Bindungen im Aufenthaltsland.
Insbesondere in der Sisojeva-Entscheidung hat das Gericht unterstrichen,
dass für das Recht auf Achtung des Privatlebens nur
starke persönliche, soziale und ökonomische Bindungen im Aufenthaltsstaat
rechtlich relevant sind.
Insofern können Personen, die in die hiesigen Verhältnisse hineingewachsen
und integriert sind bei gleichzeitiger Entfremdung von
ihrem Heimatland - sog. „faktische Inländer" - den Schutzbereich
des Rechts auf Achtung des Privatlebens für sich reklamieren.
Hierzu gehören anderem gute deutsche Sprachkenntnisse,
angemessene Wohnverhältnisse, ausreichendes Einkommen
ohne Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln, strafrechtliche Unbescholtenheit
und regelmäßiger Schulbesuch der schulpflichtigen Kinder.
Was die Verbindungen zum Heimatland angeht, ist bedeutsam,
ob die AusländerInnen noch Beziehungen zu ihrem Land unterhalten
oder über dortige unterstützende Familienangehörige verfügen.
Umstritten ist darüber hinaus, ob ausschließlich ein
rechtmäßiger Aufenthalt nach Art. 8 EMRK schutzwürdig ist.
Der Europäische Menschengerichtshof hat hierüber noch nicht entschieden.
Allerdings sehen die Oberverwaltungsgerichte in der Bundesrepublik
ganz überwiegend im Aufenthaltstitel die notwendige Bedingung
für starke soziale Bindungen im Aufnahmeland.
Diese Auffassung trägt nicht, denn langjährig geduldete Ausländer/Innen
führen genauso ein Privatleben wie Ausländer/Innen mit Aufenthaltserlaubnis.
Überzeugender ist der Ansatz, dass ein langjähriger Aufenthalt und starke Bindungen
im Aufnahmeland dann schützenswert sind, wenn die Gründe für den
Aufenthalt nicht nur auf Umständen fußen, die ausschließlich vom Willen
der ausländischen Person abhängen.
Das Hauptanliegen des Zuwanderungsgesetzes Kettenduldungen
abzuschaffen, ist gescheitert und mit diesem Gesetz auch nicht zu erreichen.
Seit Januar 2005 sind lediglich 25.588 AusländerInnen
Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt worden.
Obwohl Berlins Innensenator Körting sich im Vorfeld der Innenministerkonferenz für das Bleiberecht stark gemacht hatte, ist die Umsetzung durch die Berliner Ausländerbehörde skandalös. Von seit dem 17.11.06 (Innenministerbeschluss) in Berlin gestellten fast 1800 Anträgen auf Bleiberecht waren bis zum 28.02.07 erst 36 genehmigt, aber bereits 118 abgelehnt. Einstellungsbereite Berliner Arbeitgeber werden ebenso wie die nach Arbeit suchenden Flüchtlinge verprellt. Kaum ein Arbeitgeber kann 3 oder mehr Monate auf eine Entscheidung der Ausländerbehörde warten.
Bernhard Fricke sprach sich für eine kostenlose juristische Vertretung der inhaftierten Flüchtlinge und Migranten aus. Dem bestehenden Bedarf kann aktuell nur eingeschränkt auf der Grundlage von Spenden und dank der Initiative des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes entsprochen werden.
(Vgl.: Pressemitteilung des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes vom 12.01.2006:
Rechtshilfe für 30 Abschiebungshäftlinge geleistet.
Fonds sucht weiter Unterstützer; Tel.: 030/3260 2590, germany@jrs.net). Im Interesse einer wirksamen Haftvermeidung bzw. Haftverkürzung sollte nach Ablauf von zwei Wochen regelmäßig ein „jour fixe" mit der Ausländerbehörde stattfinden, um im Einzelgespräch die Voraussetzungen für die Anordnung bzw. Verlängerung der Haft zu prüfen.
Jens-Uwe Thomas Flüchtlingsrat Berlin
Bevor man die Welt verändert, wäre es vielleicht doch wichtiger, sie nicht zugrunde zu richten.
Paul Claudel (1868-1955), französischer Dichter (Der seidene Schuh)